Familienstiftungen Paul Wolfgang Merkel und Werner Zeller
 Unsere Familie


Dipl.-Ing. "Peter" Wilhelm VOLCK

Dipl.-Ing. "Peter" Wilhelm VOLCK[1]

männlich 1914 - 2008  (93 Jahre)


Angaben zur Person    |    Medien    |    Notizen    |    Quellen    |    Alle    |    PDF

  • Name "Peter" Wilhelm VOLCK 
    Titel Dipl.-Ing. 
    Geburt 15 Sep 1914  Nürnberg,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Taufe  
    Geschlecht männlich 
    Beruf Geschäftsführer 
    Merkel-Referenznummer 5-13.1.5.1 
    Tod 01 Mai 2008  Haan,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Personen-Kennung I419  Merkel-Zeller
    Zuletzt bearbeitet am 15 Sep 2024 

    Vater Friedrich "Wilhelm" VOLCK,   geb. 14 Jun 1877, Nürnberg,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 02 Mai 1963, Behringersdorf,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 85 Jahre) 
    Mutter Anna Maria Katharina REISCHLE,   geb. 21 Sep 1887, Fürth,,Bayern,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 01 Sep 1974, Behringersdorf,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 86 Jahre) 
    Eheschließung 21 Sep 1909 
    Familien-Kennung F83  Familienblatt  |  Familientafel

    Familie 1 Hildegard (Hilde) KLEIN,   geb. 31 Mrz 1919, Dahlbruch,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 22 Apr 1984, Frankfurt,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 65 Jahre) 
    Eheschließung 25 Okt 1941  München,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Kinder 
     1. Gesperrt
     2. Dipl.-Ing. (FH) Rainer VOLCK,   geb. 10 Sep 1945, Nürnberg,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 31 Jan 2022 (Alter 76 Jahre)
    Familien-Kennung F184  Familienblatt  |  Familientafel
    Zuletzt bearbeitet am 13 Jan 2002 

    Familie 2 Edith HULTZSCH,   geb. 17 Jan 1908, Berlin,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 20 Apr 2006 (Alter 98 Jahre) 
    _LIV Leinburg,Nürnberg,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Adresse:
    Pfarrer 
    Familien-Kennung F1970  Familienblatt  |  Familientafel
    Zuletzt bearbeitet am 12 Jan 2000 

  • Fotos
    Personenbild
    Personenbild
    Volck Peter (aus Merkelhomepage 2006
    Volck Peter und Rudolf 1939
    Volck Peter und Rudolf 1939
    Volck Peter und Rudolf 1939; aus PWM Peter und Rudolf Volck ca. 1939 in Behringersdorf
    mit unbekannter Dame

  • Notizen 
    • Verkaufsleiter, Techn. Direktor und Geschäftsführer in Firmen der elektrischen Mess- und Regeltechnik in Nürnberg, Düsseldorf und Frankfurt/M.
      Lebenslauf von Rainer Volck über Internet am 3.1.2003 erhalten. Bei Eingabe hier durch E. Brick umformatiert und Bilder weggelassen.

      PETER VOLCK Im März 2000
      Diplomingenieur
      Rosenhof Hochdahl C 5.36
      Sedentaler Straße 25
      40699 Erkrath
      Telefon 02104/46736

      Mein Elternhaus

      Geboren bin ich am 15. September 1914, sechs Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in Nürnberg, wo meine Eltern in der Celtisstraße wohnten. Die geräumige Etagenwohnung war das hauptsächliche Zuhause meiner ersten Lebensjahre. Naturgemäß habe ich nicht allzu viele Erinnerungen an diese Zeit: an einen mir riesig erscheinenden Christbaum im Wohnzimmer, an meine Abneigung gegen neue Schuhe, später dann an das samstägliche Einkaufen der Bamberger Hörnchen, die - auf der anderen Straßenseite - der Bäcker Dengler in unvergesslicher Blätterteig-Zartheit herstellte. Geblieben ist mir - trotz aller elterlichen Liebe - das Gefühl von Dunklem: die Wohnung, dem Stil der Zeit entsprechend, mit dunklen, massiven Möbeln eingerichtet, fast alle nach Entwürfen meines Vaters angefertigt, dazu schwere dunkle Vorhänge, die Lage der Wohnung auf der Südseite des Hauptbahnhofs mit dem Blick in die Endterstraße alles andere als erheiternd (ausgewählt nur wegen des kurzen Anmarschwegs zu Vaters Arbeitsstätte) und schließlich empfand ich wohl unterbewusst das Bedrückende der Kriegszeit. Der rechte Kontrast dazu, hell und heiter, so will es mir heute erscheinen, war Behringersdorf, wo mein eigentliches Elternhaus bis zum Abitur war.
      Meine väterliche Familie stammt aus Baldingen, einem Dorf nahe Nördlingen im bayrischen Schwaben, wo sie seit Jahrhunderten ansässig war und wo es heute noch von Bewohnern namens Volk wimmelt. Um 1800 herum begannen die unternehmungslustigen Bauernsöhne ihr Glück in der Fremde zu suchen und der Großvater meines Großvaters wanderte nach Augsburg aus. Sein Sohn, mein Urgroßvater Andreas Volck, konnte schon die schöne Karoline Schürer heiraten, deren Familie die bis in unsere Zeit bekannte Schürersche Nähseidenfabrik gehörte. Durch ihn kam ein Zweig der Volcks nach Nürnberg, wo er eine Essigfabrik betrieb. Mir ist nur überliefert, dass er sehr fromm war, seine Familie tyrannisierte und als einziger am Sonntag eine Semmel zum Frühstück bekam.
      Von seinen zwölf Kindern war mein Großvater Adolf, geboren 1845, das jüngste. Ihn habe ich noch gut gekannt. Er starb 1925, als ich zwölf Jahre alt war. Von Beruf war er ,,kgl. Studienlehrer“ und später Rektor der Nürnberger Handelsschule, die sich inzwischen zur Wiso-Fakultät der Universität Erlangen entwickelt hat. Vor allem aber hat er sich um das Nürnberger Musikleben verdient gemacht: er machte den 1852 als Liebhaberorchester gegründeten „Privatmusikverein“ zu einer - ehrenamtlich betriebenen - Konzertagentur und Abonnentenvereinigung für die Veranstaltung von hochrangigen Kammermusik- und Solistenkonzerten. Ab 1885 war Adolf Volck für mehr als 30 Jahre der 1. Vorstand. Sechs Konzerte wurden in jeder Saison gegeben. Die Künstler wohnten während ihres Aufenthalts in Nürnberg häufig in seinem Haus in der Lindenaststraße. Es gibt keinen bedeutenden Instrumentalkünstler, keine namhafte Kammermusikvereinigung, keinen Konzertsänger, der nicht im Privatmusikverein aufgetreten wäre. Mit Adolf Busch, dem Primarius des damals in Europa führenden Busch-Quartetts, war Adolf Volck befreundet. Der Privatmusikverein hat alle Fährnisse der Zeiten überstanden. Die Abonnementsplätze vererben sich von Generation zu Generation.
      Mein Großvater heiratete 1871 Käthe Merkel, die einer hochangesehenen Nürnberger Familie entstammte. Ihr Vater Gottlieb von Merkel, Jurist, wurde Senatspräsident. Ihr Großvater Paul Wolfgang Merkel (1753 - 1820) war erfolgreicher, wohlhabender Kaufmann, Handelsrichter, Vorsteher des Handelsplatzes (Handelskammer-Präsident würden wir heute sagen) und zuletzt erster Abgeordneter Nürnbergs in der 1819 gegründeten bayrischen Ständeversammlung, dem heutigen Landtag. Dazu war Paul Wolfgang Merkel allen kulturellen Dingen gegenüber aufgeschlossen, war befreundet mit dem Philosophen Hegel, mit Jean Paul, mit dem Physiker Seebeck. Den Kontakt mit Goethe während dessen mehrtägigem Aufenthalt in Nürnberg 1797 vermittelte Goethes „Urfreund“ Knebel, der bei seinen Nürnberger Besuchen regelmäßig bei Paul Wolfgang einkehrte. Paul Wolfgang Merkel war ein hervorragender Vertreter des immer mehr an Einfluß gewinnenden und sich aus dem Schatten des Adels lösenden Bürgertums.
      Meine Großeltern Volck hatten zwei Söhne und vier Töchter. Mein Vater Willy war der jüngere der beiden Söhne, geboren 1877. Er hatte an der Technischen Hochschule Darmstadt studiert und wurde 1903 als junger Diplomingenieur Angestellter der Siemens-Schuckert-Werke, denen er - mit nur geringer Unterbrechung nach 1945 bis zu seinem 79. Lebensjahr treu blieb. - Im Jahr 1909 heiratete er meine Mutter Anna Reischle-Schwarzmann. An die Hochzeitsfeier im Grand Hotel erinnerte mich während meiner ganzen Kinderzeit ausgerechnet ein Toilettenspiegel, postkartengroß, aus facettiertem Kristallglas (mit silbernem Rahmen zum Aufstellen), dessen Besonderheit darin bestand, daß auf seiner Rückseite das Hochzeitsmenu abgedruckt war. Er diente also gleichzeitig als Menukarte und als Geschenk für die weiblichen Festteilnehmer. Von der umfangreichen Speisenfolge hat sich mir nur „Beluga Malossol“ eingeprägt - wahrscheinlich weil diese Wörter so schön klangen. Daß Spiegel die Hochzeitstafel schmückten, hatte einen Grund: der Brautvater, Mutters jüdischer Stiefvater Ignaz Schwarzmann, war Teilhaber der Spiegelglashandlung Heinemann und Schwarzmann in Fürth, der Nachbarstadt Nürnbergs.
      Meiner Mutter leiblichen Vater Georg Reischle habe ich nicht mehr gekannt. Meine Großmutter Elisabeth Blümlein, ein Landmädchen aus der Nähe von Würzburg, machte ein ausgesprochen „gute Partie“, als sie den 33 Jahre älteren Eisenbahn-Offizial Reischle aus Kempten heiratete, der in Fürth Dienst tat. Als er jedoch 1900 im Alter von 68 Jahren starb, hinterließ er eine junge Witwe mit vier Töchtern, deren älteste, meine Mutter, gerade 15 Jahre alt war. Aus dem bei den damaligen Versorgungsverhältnissen vermutlich kümmerlichen Dasein, das meiner Großmutter bevorzustehen drohte, wurde sie sehr bald durch ihre zweite Verheiratung mit Ignaz Schwarzmann ein für allemal befreit, mit dem sie bis zu dessen Tod im Jahr 1926 eine glückliche und von materiellen Sorgen freie Ehe führte. Er adoptierte die vier Töchter, schickte sie für ein Pensionatsjahr in die Schweiz und bestellte bei einem namhaften Architekten ein ,,kleines Sommerhäuschen" in Behringersdorf, das dann in Wirklichkeit eine sehr ansehnliche, schöne Villa mit zehn Zimmern, Mansardendach mit Türmchen und mit großer Südterrasse mit weitem Blick über das Pegnitztal wurde. Dazu kam ein Nebengebäude mit Stallung für zwei Pferde, Autogarage mit Montagegrube, Abstellplatz für zwei große Benzinfässer (Tankstellen gab's ja noch nicht) - und oben drüber eine hübsche Kutscherwohnung. Das Haus wurde um 1909 fertig. 1914 wurden Kutscher, Auto, Pferde und Chaise zum Kriegsdienst eingezogen.
      Behringersdorf, eine Mischung aus Bauerndorf und Villenvorort, liegt zehn Kilometer östlich der Stadtmitte von Nürnberg an der Landstraße über Lauf und Hersbruck nach Amberg. Das großväterliche Grundstück lag am östlichen Ortsausgang auf der Südseite dieser Straße und fiel in seinem südlichen Teil in den breiten Pegnitzgrund ab, am Hang mit dichtem Föhrenwald bestanden. Das nördlich der Landstraße zwischen dieser und der Eisenbahnlinie gelegene Grundstück wurde gleich dazugekauft, damit dort kein unliebsames Gegenüber bauen konnte und damit Platz für eine zahlreiche Hühnerschar war; denn mein Großvater mußte sich damaliger Meinung entsprechend als Diabetiker hauptsächlich von Eiern ernähren. Außerdem gab's auf diesem ,,Hühnerhof" eine Wagenremise mit angebautem Hühnerstall, viele Gemüsebeete und ein Föhrenwäldchen. Und mit ein paar Schritten war man zum Schwimmen an der Pegnitz oder zum Spazierengehen oder Spielen im Wald jenseits der Bahnlinie - eine ideale Umgebung für uns Kinder.
      Im Jahr 1915 war mein Bruder Rudolf zur Welt gekommen und meine Eltern verbrachten alljährlich viele Sommerwochen in Behringersdorf im Häuschen eines Rentnerpaares, das sich durch Vermietung des Obergeschosses gern etwas dazuverdiente. Nach Kriegsende herrschte Wohnungsnot und es wurde verboten, zwei Wohnungen zu haben. Außerdem mußten meine Großeltern, die nur mit der unverheirateten Schwester meiner Mutter im großen Hause lebten, befürchten Zwangsmieter eingewiesen zu bekommen. So lag es nahe, daß meine Eltern, hauptsächlich uns Kindern zuliebe, 1919 in die Mansardenzimmer der „Schwarzmannsvilla“ einzogen und die Wohnung in der Celtisstraße möbliert vermieteten. Das führte zu jahrelangem Ärger mit den alles kaputtmachenden Mietern, aber mein Bruder und ich - wir hatten unser wahres Elternhaus gefunden.
      Als wir heranwuchsen, gab es im Garten und in der Umgebung die reichlichsten Gelegenheiten zum Spielen: Anschlagversteck, ,,Fangerletz“, Holländer- und Rollerfahren, später Radfahren, Baden und Schwimmenlernen in der Pegnitz, Skilaufen auf den immerhin fünf Meter hohen Abhängen der „Brell“, Anlegen eines Tiergartens beim Nachbarsbuben mit Fröschen, Kröten, Eidechsen, Salamandern und Käfern aller Art, die wir in Wiese und Wald erbeuteten. Bei einem anderen Nachbarn wurde ein Kino eingerichtet mit petroleum-duftender Laterna magica und Vorstellungen für die Erwachsenen gegen Eintrittsgeld. Natürlich gingen wir auch zum Erdbeer-, Schwarzbeer- und Brombeerpflücken in den Wald. Was ich in besonders schöner Erinnerung habe, waren die vielen Waldspaziergänge mit Großvater Schwarzmann und seinem Freund Loewi. Während die würdig dahinschreitenden alten Herren sich darüber unterhielten, daß 4% Einkommensteuer unerhört viel sei und daß die Anaconda schlecht stünden, rannte ich vor und zurück und kletterte auf Felsen und Bäume. Damals entstand meine Vorliebe für lange Waldspaziergänge.
      Großvater Schwarzmann war ein Mensch von tiefer Herzensgüte. Zwei seiner unverheirateten Schwestern lebten vollständig von seinen Zuwendungen. Ich war als Kind immer gern in seiner Nähe. Wie oft saß ich bei Großmutter und ihm im „Stüble“, ihrem gemütlichen Wohnzimmer mit dem grünen Kachelofen, und zeichnete auf die Innenseiten von aufgeschnittenen alten Briefumschlägen Autos und immer wieder Autos, oder ich durfte - von 1924 an - mit Detektorempfänger und Kopfhörer Radio hören. Gut zu empfangen waren damals ausgerechnet Stockholm-Motala und Bratislava (weshalb mir Schwedisch und Tschechisch noch heute so angenehm in den Ohren klingen) und natürlich die ,,Deutsche Stunde in Bayern" - durch welche Bezeichnung immerhin zugegeben wurde, daß Bayern auch Beziehungen zu Deutschland unterhält. Vom Nürnberger Sender hörte ich jeden Mittwoch nachmittag einen Schachkurs für Anfänger. Danach spielten der Bräutigam unseres Dienstmädchens und ich viele Partien - am Küchentisch.
      Großvater Volck kam gelegentlich von Nürnberg nach Behringersdorf gewandert, um mit den Großeltern Schwarzmann Tarock zu spielen. Er war für mich die Respektsperson schlechthin, vor der ich immer ein wenig Angst hatte. Aber er hatte durchaus ein Herz für Kinder: zu Weihnachten bastelte er uns aus Zigarrenkistenbrettchen einen wunderschönen Kaufladen mit voller Inneneinrichtung, mit dem wir jahrelang spielten, und wenn ich in der Vorweihnachtszeit mit der üblichen Grippe im Bett lag, bekam ich von ihm selbstgemachte, lehrreiche Silbenrätsel oder Rebusse. Meine Zuneigung zu solchen Dingen ist also vererbt.
      Die vier Jahre in der Behringersdorfer Volksschule - vier Klassenzimmer für acht Klassen - brachten keine besonderen Probleme, außer vielleicht der raschen und völligen Aneignung des Behringersdorfer Lausbubendialekts, der zu ebenso häufigen wie erfolglosen Mahnungen meiner Eltern führte, ich solle anständig sprechen. Aber man konnte doch so ein geschraubtes Deutsch nicht über die Lippen bringen! Dabei verstand ich selber lange Zeit nicht die Drohung, die in der Pause von ihren Mitschülern drangsalierte Knaben oft ausstießen: „sag's fei ,n Lierer“. Wer war nur dieser ominöse Lierer? Bis ich dann endlich darauf kam, daß der Herr Lehrer gemeint war. Im Frühjahr 1925 bezog ich das Gymnasium und die Aussprache nahm schnell wieder das gesittete Fränkisch an, das dort und zuhause üblich war. Das Neue Humanistische Gymnasium lag hinter der alten Stadtmauer unmittelbar gegenüber dem Hauptbahnhof, günstig für auswärtige Schüler.
      Die neun Jahre bis zum Abitur und dem Verlassen des Elternhauses waren für mich rundum glücklich. Entscheidend dafür war wohl, daß meine Eltern eine harmonische Ehe führten. Nie hörte ich ein böses Wort zwischen ihnen, es herrschte eine heitere Liberalität. In diesem liberalen Geist wurden auch wir erzogen - „in freier Wildbahn“, wie der gestrenge Onkel Armin sagte. Gewiß war mein Vater gelegentlich brummig, wenn meine Mutter jede Woche die ,,Berliner Illustrierte" kaufte, dieses „nichtsnutzige Schundblatt“ (das er dann von vorne bis hinten las) oder wenn sie einen Telefonanschluß einrichten ließ, der doch völlig überflüssig sei (und von dem er sich dann gerne zu Dauergesprächen von seiner Verehrerin Els'chen Cahn anrufen ließ) oder wenn sie gar ein Vermögen ausgab, um das Nebengrundstück zu erwerben, damit wir Kinder einen Sandplatz zum Spielen hätten und damit Tante Friedel, ihre Schwester, sich nicht immer über uns beschweren mußte, weil wir den von ihr liebevoll gepflegten Garten mit unseren Spielen verwüsteten (und in welchem Grundstück dann Vater mit Hingabe und Freude Gemüse und Blumen anbaute). Mutter war frohen Gemütes, immer positiv eingestellt, eine sorgsame Hausfrau, eine unermüdliche Gastgeberin, eine überaus emsige Briefschreiberin, eine leidenschaftliche Romanleserin - und für mich der Mittelpunkt der Welt. Wie wohlig war's doch, wenn sie sagte: ,,Machen wir gemütlich“. In der Abenddämmerung las sie uns dann Märchen vor von Grimm, Brentano, Arndt und Andersen oder sie las aus der „Familie Pfäffling“ von Agnes Sapper. In der Vorweihnachtszeit wurden dazu die Kerzen des Adventskranzes auf dem runden Eßtisch angezündet - alle vier Kerzen vom ersten Advent an. Bücher waren Mutters Leidenschaft, aber auch Vater las gerne oder ließ sich von ihr vorlesen. Im Lauf der Jahre kamen so einige tausend Bände zusammen: neben den Klassikern eine recht umfassende Sammlung der Romanliteratur vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich sehe noch Vater an Weihnachten und bei jedem Geburtstag ausmessen, wieviel Zentimeter Bücher da wieder zusammengekommen waren, um darüber zu grübeln, an welcher Stelle des Wohnzimmers sich noch ein Bücherregal zu deren Aufnahme anbauen ließ. Mutters Lieblingsschriftsteller war Hans Carossa, während sie Thomas Mann nichts abgewinnen konnte, so daß er in der Sammlung fehlte, bis sie nach dem Krieg vom Schulrat Wolfinger, einem Nachbarn, Manns Gesammelte Werke erbte. Ich bin mir nicht sicher, ob sie dann nicht doch darin gelesen hat. Ich selbst hat diese Leselust und der ständige Anblick der schönen Bücherrücken schon früh zum Lesen geführt. Von Robinson, Gulliver und Sonnleitners ,,Kinder im heimlichen Grund" kam ich - unter völliger Überspringung von Karl May - schon bald zu Gottfried Keller, Mörike, Stifter und ... Christian Morgenstern. Und die Schullektüre hat mir keinen einzigen Klassiker vermiest. Die tägliche Bahnfahrt von 18 Minuten von Behringersdorf nach Nürnberg ins Gymnasium gab viel Gelegenheit zum lesen, auch wenn ich im morgendlichen Berufsverkehr noch so sehr in dem überfüllten Wagen eingequetscht war.
      Daß mir trotz meiner Lesefreude der deutsche Aufsatz in der Schule ein Greuel war, ist verwunderlich. Aber mit solchen Themen wie dem mittelalterlichen Satz ,,man sol vollen Becher tragen ebene" konnte ich einfach nichts anfangen, während der Schneiders Wilhelm, der später ein großer Rechtsanwalt wurde, geistvolle und tiefschürfende Betrachtungen darüber anstellte und eine 1 bekam. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, bekam ich die einzige 4 in den neun Jahren (damals war 5 die schlechteste Note) für einen völlig verkorksten deutschen Aufsatz. Der Gerechtigkeit halber muß ich aber hinzufügen, daß ich ein einziges mal auch eine 1 bekam, mit 12 Jahren für den Aufsatz „Womit ich am liebsten spiele“. Dieses Spielzeug war die Uhrwerkseisenbahn, deren Betrieb ich zu einer fantastischen Geschichte ausschmückte. Im übrigen bewegte ich mich mit meinen Noten zwischen 2 und 5, nur in Mathematik und Physik habe ich immer Einsen geschrieben.
      In der 5. Klasse (der Obertertia, nach heutiger Zählung der 9.) leistete ich mir in denkbar ungünstiger Situation einen schrecklichen Galimathias: unser Klassenlehrer, Studienrat Pilz, schickte mich ins Lehrerzimmer, wo ich unsere korrigierten Hefte abholen sollte, die er versehentlich dort liegengelassen hatte. Als ich im Flur vor dem Lehrerzimmer ankam, stand da eine Gruppe von mehreren Lehrern zusammen mit Dr. Keller, dem Direktor. Auf seine Frage: ,,Was willst Du denn hier?“ antwortete ich: ,,Ich soll die Pilze vom Professor Heft abholen...“ Unter dem schauderhaften Gelächter des Lehrkörpers versank ich vor Scham in den Boden.
      Zur Konfirmation schenkte mir Hedwig Stieve das Buch ,,Aus fernen Welten“ des Berliner Arbeiterastronomen Bruno Bürgel. Es begeisterte mich mehrere Jahre lang für die Astronomie. Von unserem „Türmle“ aus konnte man mit Vaters Zeissglas wunderbar den Himmel beobachten und ich notierte lange Zeit hindurch die Stellung der vier großen Jupitermonde. Mein Freund Kurt Stiegler teilte meine Begeisterung, er besaß aber zusätzlich ein echtes Fernrohr, und die Sicht von seiner elterlichen Wohnung am Prinzregentenufer war auch nicht schlecht. Eines Abends durfte ich in Begleitung von Tante Friedel einen Vortrag von Bruno Bürgel besuchen - ein großes Ereignis für mich. Er sprach unter anderem über die merkwürdigen Marskanäle und über die damalige Vermutung, sie seien von vernunftbegabten Wesen angelegt worden. Durch mein damaliges Hobby wird mir gerade am Beispiel der Astronomie die atemberaubende Entwicklung der Naturwissenschaften in den seither vergangenen 70 Jahren immer besonders deutlich.
      Der Fahrplan für die nach Behringersdorf fahrenden Züge, über meine ganze Gymnasialzeit unverändert, war ungünstig: kurz vor 1/2 1 Uhr war Schulschluß: der eine, 10 Minuten vorher abfahrende Zug war nicht zu erreichen, und der nächste ging erst um 2 Uhr. Für die dazwischenliegenden anderthalb Stunden organisierte Mutter einen Wochenplan für mein Mittagessen reihum bei Verwandten und Freunden. Ich fand das dann im Lauf der Jahre zunehmend interessant. Am Montag wurde ich bei Tante Else gut und reichlich verpflegt. Sie war eine Schwester meines Vaters, mit dem Bauingenieur und Ziegeleibesitzer Otto Weber verheiratet, und eine Frau mit viel Humor. Am Dienstag mußte ich etwas langweilig allein essen; denn Frau Lutz zog sich derweil in ihre Küche zurück. Sie machte den Eindruck, als würde sie überhaupt nicht zu Mittag essen. Vielleicht gehörte das zur Mazdaznan-Lehre, sie war nämlich eine leidenschaftliche Anhängerin des großen Meisters O.Z.A. Hanish. Entsprechend war die Atzung supervegetarisch. Ganz das Gegenteil war am Mittwoch die lebhafte Tafelrunde bei Bernhards, einer der wohlhabenden und kultivierten jüdischen Familien Nürnbergs: Ernst Bernhard Kaufmann und langjähriger Schatzmeister des Privatmusikvereins, seine Frau Ida polyglotte Präsidentin in der Liga für Menschenrechte. Besonders beeindruckt war ich von dem goldgefassten Monokel, das an goldenem Kettchen vor ihrem Busen baumelte und das sie zum Lesen gekonnt ins Auge klemmte. Bernhards hatten zwei Kinder, wenig älter als ich, und sehr oft war ausländischer Menschenrechtsbesuch bei Tisch. Um die tägliche lästige Dienstmädchenfrage, was es heute zu essen geben solle, zu umgehen, hatte Ida Bernhard ein festes Wochenprogramm aufgestellt. Der Mittwoch war der Tag von Rührei mit Spinat und zum Nachtisch Erdbeereis, was ich sehr beeindruckend fand. Zuhause gab's nie Eis, nicht einmal auf der Kirchweih durften wir eins essen - der Schädlichkeit für die Zähne wegen.
      Der Donnerstag war etwas Besonderes: da kam Mutter in die Stadt um einzukaufen und die schon erwähnte „Berliner Illustrirte“ zu erwerben, die an diesem Tag erschien. Da trafen mein Bruder und ich uns mit ihr im Café Fraunholz in der Königstraße, um als Mittagessen in köstlichen Torten, Kuchen und Kakao zu schwelgen.
      Wieder ganz anders war es am Freitag. Da war ich zu Gast im historischen Pfarrhaus von Sankt Lorenz, der großen gotischen Kirche mit dem „eng1ischen Gruß“ von Veit Stoß und dem „Sakramentshaus“ von Adam Krafft. Eine Ehrfurcht gebietende, breite Sandstein-Wendeltreppe führt im Pfarrhaus in den ersten Stock, wo die Wohn- und Arbeitsräume von Wilhelm Stählin lagen, dem Hauptpfarrer an Sankt Lorenz. Seine Frau Emmy stammte aus der Münchener Linie der Merkels. Zusammen mit ihren sechs Kindern, teils älter, teils jünger als ich, und einigen Hausbediensteten ergab sich ein ansehnlicher Kreis um einen riesigen runden Tisch. Nur hier erlebte ich, daß - selbstverständlich - ein Tischgebet gesprochen wurde.
      Wilhelm Stählin war nicht nur ein bedeutender Kopf, sondern auch ein sehr ansehnlicher Mann. Seine regelmäßigen Bibelstunden waren deshalb bei der Damenwelt äußerst beliebt. Tante Friedel machte da keine Ausnahme. „Wilhelm war heute wieder fabelhaft“ schwärmte sie. Vaters Spötteleien nahm sie mit säuerlicher Überlegenheit hin. Als Pfarrer Stählin Landesbischof von Oldenburg wurde, hörten die Bibelstunden auf und ich aß auch am Freitag bei Tante Else.
      Der Samstag sah Vater und uns Kinder im großväterlichen Haus in der Lindenaststraße, wo - nachdem beide Großeltern Volck im gleichen Jahr 1925 gestorben waren - zwei der unverheirateten Töchter, Tante Mi und Tante Hedwig, den Haushalt weiterführten. Da die Batik- und Buchbindearbeiten von Tante Mi und der Gesangs-, Sprech- und Englisch-Unterricht von Tante Hedwig nicht genug zum Lebensunterhalt beitrugen, vermieteten die beiden einige Zimmer an Dauermieter und sie betrieben einen Mittagstisch, an dem auch nicht im Hause wohnende Gäste teilnahmen. Da gab es am Samstag öfters Dampfnudeln, von Tante Mi gezaubert, und - wie es mit Kindheitserinnerungen so geht - ich habe später nie und nirgends auch nur annähernd so köstliche gegessen. Köstlich waren aber auch die Tischgespräche der bunt zusammengewürfelten Runde. Allen voran Elisabeth Nägelsbach, im Nürnberger Sozialwesen tätig und später Landtags-Abgeordnete, hochgebildet und mit fröhlicher Verstandesschärfe begabt, sodann die Pianistin Maria Kahl-Decker, mit Wuschelhaar und Habitus auf Elly Ney getrimmt, als exotischer Farbklecks ein stattlicher Inder, für den extra immer Hammelfleisch zubereitet werden mußte, und schließlich ein charmantes Studentenpärchen, er Däne, ein Felix-Krull-Typ und Liebling von Tante Hedwig, und sie, nachdem sie sich von ihrem dänischen Windbeutel getrennt und einen deutschen Hochschulprofessor geheiratet hatte, eine lebenslange Freundin von ihr.
      Nun aber zu dem, was mir die Erinnerung an mein Elternhaus besonders liebt macht: die Musik und die damit verbundene Geselligkeit. Mein Vater spielte für einen Dilettanten recht gut Geige und er tat es sein Leben lang mit Fleiß und Hingabe. Jeden Abend übte er, sobald er nachhause gekommen war, vor dem Abendessen eine Stunde lang, auch nahm er immer wieder Violinunterricht bei wechselnden Berufsmusikern, die zu uns ins Haus kamen. Er besaß drei Geigen: die Zanoli, die Guadagnini und die Guarneri. Letztere hatte er von seinem Vater geerbt. Sie wurde von einem bekannten Geigenbauer restauriert, der sehr von ihr angetan war. Als ich nach dem Tod der Eltern zunächst die Zanoli in Frankfurt verkaufen wollte, behauptete der befragte Geigenbauer, nachdem er sie ein paar Sekunden angeschaut hatte: „No ja, ordentliche Mittenwalder Arbeit“. „Aber auf dem Etikett steht doch ,Zanoli fecit 17..“. Papier ist geduldig, meinte er nur. Überzeugt davon, daß der Unmensch nur den Preis drücken wollte, ging ich zu dem anderen namhaften Geigenbauer, der nach einigen Sekunden genau das gleiche sagte. Da glaubte ich es. Immerhin wurde die Mittenwalder „Guarneri“ als sogenannte Konzertmeistergeige eingestuft, und das ist schon eine recht gehobene Qualitätsstufe. Ich hörte meinen Vater nie etwas von dieser Mittenwalder Herkunft sagen, die ja wahrhaftig nichts unwürdiges ist. Aber selbst wenn er es wußte, waren ihm halt die italienischen Namen lieber.
      Die Begleitung, die ein Geiger braucht, liefert für die Hausmusik in erster Linie das Klavier. So kam denn während meiner ganzen Kinder- und Jugendzeit eine Pianistin zu Besuch und beinahe jedes Wochenende wurden einige der klassischen Violinsonaten von Bach bis Reger „gemacht“. Bald kam ein Cellist, Willi Emmerling aus Amberg, hinzu, und dann erklangen die Klaviertrios von Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms - und als Gipfelpunkt der Klangseligkeit die beiden Schubert-Trios op.99 und 100. Zwischendurch gab es Streichtrio oder sogar Klavier- oder Streichquartett - für letztere war aber eigentlich unser Wohnzimmer zu klein. Ein vorübergehend anwesender Siemens-Informand (Vater betreute die Informanden und lud sie öfters zum Zuhören ein) spielte sehr gut Flöte, was zu einer mir lebhaft in Erinnerung gebliebenen Aufführung des 4. Brandenburgischen Konzerts führte. Ganz gelegentlich durfte eine Pianistin auch solo spielen, aber da wurde Vater schon leicht kribbelig, weil er lieber selbst mitwirken wollte. Ab und zu sang Tante Hedwig Schubert- und Brahmslieder und Vetter Paul Weber sang zur Laute die schönen alten Weisen. Kurzum: es war ein bewegtes Musikleben.
      Ab und zu wurde auch außerhalb des Hauses gespielt: bei den Nachbarn Goegelein, die in ihrem Haus ein großes Musikzimmer mit sehr gutem Flügel hatten (und deren hübsches Töchterlein meine erste, ganz heimliche Liebe war), oder das Trio reiste an den Ammersee, wo Edi Goegeleins Schwester in ihre feudale Villa eingeladen hatte, oder es gab sogar einen öffentlichen Auftritt im Behringersdorfer „Kurhotel“-Saal anläßlich irgendeines Festes.
      Die schon erwähnte Hedwig Stieve war eine innige Freundin meiner Eltern und Vaters bevorzugte Klavierpartnerin in den 20er Jahren. „Es wird kommen eine lange Dürre“ pflegte Dr. Sienz, der amüsante Nürnberger Rechtsanwalt, zu sagen, der die 1,76 m große schlanke Dame aber genauso verehrte wie mein Vater und alle, die sie kannten. Ihre Körperlänge war in der damaligen Zeit absolut ungewöhnlich. Mein Vater galt mit 1,76 m als groß. Hedwig Stieve, einer Gelehrtenfamilie entstammend, war als städtische Fürsorgerin tätig. Sie spielte sehr gut Klavier. Ich saß zu ihren Füßen, spielte mit meinen Bauklötzen und stand immer im rechten Augenblick auf, um die Noten umzublättern. Die Bewunderung, die ich dafür erntete, tat mir wohl. - Alljährlich in der Adventszeit sammelte sie in ihrem Bekanntenkreis für ihre Schützlinge. Meine Mutter brachte immer eine respektable Sammlung von abgelegten Kleidungsstücken und anderen nützlichen Dingen zusammen, die allenthalben Freude auslösten. - Hedwig Stieve war auch schriftstellerisch tätig. Für uns Buben schrieb sie passende Märchen. Eines hieß „Der Neinerlich“ und sollte meinem kleinen Bruder, der wohl manchmal trotzköpfig war, zeigen, wohin das führt und wie eine gute Fee ihm das Neinsagen abgewöhnt. Die Märchen, von einem ihrer Schützlinge wunderschön von Hand geschrieben und mit kolorierten Zeichnungen versehen, waren in einem kleinen Bändchen zusammengefaßt. Im Druck erschien „Ein Tag aus dem Leben einer Fürsorgerin“. Vater wurde darin mit dem Satz bedacht: „Der Hausherr, klotzig und verdrossen, sog an seiner Pfeife“. Diese oft zitierte Bemerkung traf besonders zu nach Beendigung des Nachmittagkaffees, wenn Mutter mit den Gästen noch lebhaft plauderte. „Wann können wir denn endlich weitermusizieren?“ brummte er dann.
      Nachdem Hedwig Stieve als Leitende Fürsorgerin nach Berlin übergesiedelt war, wurden Nürnberger Klavierlehrerinnen, die Bobby (Adele Leyckam) und das Gaggele (Laura Gagstetter), Vaters getreue Klavierpartnerinnen. Besonderen Kunstgenuß gab es, wenn Gretl Dittmar, eine befreundete Unternehmersgattin, daneben aber auch ausgebildete Konzertpianistin, bei uns spielte.
      Etwa Anfang der 30er Jahre wurde Gustav Lenzewski, Konzertmeister des Städtischen Orchesters, Vaters Violinlehrer, sehr bald aber auch der engste Freund der Familie. Er war ein feingliedriger Intellektueller und spaßliebender Kindskopf in einem. Sein Violinspiel war natürlich technisch perfekt, aber seinem Wesen entsprechend spirituell, ohne Wärme. Wie er die Frühlingssonate spielte, gefiel mir nicht - aber zeitgenössische Werke spielte er mit seinem später gegründeten Streichquartett hervorragend. Über eine Konzertkritik, in der ihn eine begeisterte Rezensentin als „Vollblutmusiker von betörender Süße“ bezeichnete, amüsierten wir uns alle sehr. Er war total anders und wußte das natürlich auch. Eines Tages erhielt er einen Ruf als Professor an das Hochsche Konservatorium in Frankfurt, und als er zögerte, riet ihm Mutter dringend anzunehmen, weil er dazu geboren sei. Er gehörte denn auch bald zum Leitungsgremium dieser namhaften Musikschule. Aber nach Behringersdorf kam er jeden Monat für ein Wochenende, um Vater und Dr. Sienz eine Geigenstunde zu geben und die Gastfreundschaft meiner Eltern zu genießen. Mein Bruder war in dieser Zeit meist mit der Freischar auf Fahrt. Dann schlief das „Guschtäfle“ in dessen Bett im Kinderzimmer und wir wetteiferten vor dem Einschlafen in Nonsense-Versen und Wortspielereien. - Mit dem Geld kamen er und seine Frau Ina, eine Tochter des Komponisten Raul Juon, offenbar nie recht aus. Ihr lag als einem enthusiastischen und herzlieben Nervenbündel schnödes Hauswirtschaften bestimmt nicht und das Einkommen von Orchestermusikern war wohl nicht gerade üppig. So fühlte sich Mutter dazu angeregt, ihm alljährlich zu seinem Geburtstag, der einen lag nach meinem war, einen sehr umfangreichen Gabentisch aufzubauen, mit seinen Lieblingszigarren, teuren Krawatten und vielen anderen nützlichen Sachen. Vater hielt es für übertrieben.
      In den großen Schulferien kam viele Jahre lang Vaters Bruder Otto für mehrere Wochen zu Besuch. Er war Lehrer für Mathematik und Physik am Maxgymnasium in München. Onkel Otto spielte außerordentlich gut Klavier. Er war das einzige männliche Wesen, mit dem Vater gerne musizierte. Ohne viel Palaver spielten sie die einschlägigen Sonaten einfach chronologisch der Reihe nach, bei der ersten der sechs Bach-Sonaten angefangen. Wenn sie bei Reger angelangt waren, war der Ferienaufenthalt zu Ende. Ich mochte Onkel Otto so gern, daß ich beinahe auch Lehrer geworden wäre. Es war richtig, daß ich mich im letzten Moment anders entschlossen habe.
      Apropos Klavierspielen: über mein eigenes decke ich lieber den Mantel des Schweigens. Trotz 13-jährigem Unterricht erreichte ich nicht die erforderliche Spieltechnik - sei es, daß ich für die langweiligen Fingerübungen zu faul war oder daß die Klavierlehrerin keinen besonderen Wert auf Technik legte oder daß meine Finger-, Hand- und Armveranlagung ungeeignet war. Auch nur ein bißchen technisch anspruchsvollere Stücke konnte ich nicht spielen. Meiner Musikliebe hat's keinen Abbruch getan.
      Zum häuslichen Musizieren gehören Zuhörer. So kamen Freunde und Verwandte am Samstag und am Sonntag zu Besuch. Das erste, was sie beim Betreten unseres Wohnzimmers ausriefen, war: „Oh, wie schön ist wieder der Kaffeetisch gedeckt!“ Da standen auf dem runden Tisch die Gedecke vom Service aus der „Frauenkultur“ mit dem kleinen blauen Fischgrätenmuster. Das gleiche Muster zeigte das gestickte Leinentischtuch, von Tante Mi entworfen. In der Mitte prangte das barocke Silberensemble, hochglanzpoliert, mit Kaffee- und Teekanne, Milchkännchen und Zuckerdose auf ovalem Tablett. Drumherum viele kleine Henkelkörbchen aus Porzellan mit ganz kurz abgeschnittenen Blumen aus dem Garten und lose hingestreuten Blüten auch zwischen den Tellern. Mutters ganzer Stolz war diese Tischdekoration. Auf dem Beistelltischchen standen - neben den selbstgebackenen Kuchen - Windbeutel, Schlotfeger, Teeblätter und ähnliches, die in einem uralten, winzigen Sandsteinhaus das Dorfes der alte Konditormeister in seiner von Alter und Ruß geschwärzten Backstube herstellte. Bei diesem Anblick wäre ein heutiger Mann der Gewerbeaufsicht glatt in Ohnmacht gefallen. Ob aber die Produkte aus einer gewerblich einwandfreien Backstube besser schmecken? An allen Familiengeburtstagen gab es selbstgebackenen Wursteierring, einen Kranz aus ungezuckertem Hefeteig, in den Nürnberger Bratwürste eingelegt waren, obendrauf kleine Speckwürfel und grobes Salz - nach einem uralten Rezept, das damals schon im Aussterben begriffen war. Es war etwas Besonderes. - Etwas Besonderes war auch der winzig kleine silberne Brautbecher, der durch einen Klöppel zu einer leise zirpenden Klingel umfunktioniert war. Sie diente bei Tisch dazu, Johanna, unser langjähriges Dienstmädchen, zu rufen. Niemand wollte glauben, daß sie das in der entfernten Küche hören konnte, aber sie kam prompt. - Zu dem Kaffee-Zeremoniell gehörten auch Mutters lange, hochgeschlossene, dunkelfarbige Taftkleider aus dem Frauenkulturladen am Nürnberger Hauptmarkt. Alltags trug sie meist Dirndlkleider.
      Mutters Dirndlkleider und Vaters Lederhosen gehörten selbstverständlich zur Ausrüstung des dreiwöchigen Jahresurlaubs, den die Eltern stets in den Alpen verbrachten. Als wir noch klein waren, wurden wir während dieser Zeit mit Johanna zu deren verheirateter Schwester nach Neuendettelsau, später nach Kleinerdling bei Nördlingen im Ries geschickt. Das war sehr schön, hatte aber den Nachteil, daß Mutter Rieser Bauernkittel für uns anfertigen ließ: blaue Leinenhemden mit weißer Stickerei auf den Schultern. Alle Erwachsenen fanden das entsetzlich süß, wir mußten in der Schule das Gespött wegen der „Madleskleider“ ertragen. Später dann sollten wir erst die nähere Heimat kennenlernen mit kurzen Reisen in den Steigerwald bei Bamberg und ins Altmühltal. Als wir für ausgedehnte Hochgebirgswanderungen erwachsen genug waren, nahmen uns die Eltern in die Berge mit. An ein unverhofftes Erlebnis auf einer dieser Wanderungen erinnere ich mich lebhaft: wir waren in den Lechtaler Alpen unterwegs, als ein heftiger Schnürlregen uns die Tour vorzeitig in Serfaus abbrechen ließ, das damals noch ein armseliges Gebirgsnest mit einem einzigen Gasthaus war. Beim Abendessen in der niedrigen Wirtsstube mit spärlicher Beleuchtung war nur ein weiterer Tisch besetzt, mit zwei Damen und einem Herrn, die sich sehr lebhaft über Musik und Rundfunk unterhielten. Wir merkten bald, daß es sich um die Mitglieder des Herma-Studeny-Trios handelte, das im münchener Rundfunk regelmäßig klassische Werke spielte. Schließlich wurde ich an den Tisch geschickt, um Frau Studeny zu fragen, ob sie uns nicht etwas vorspielen könnte. Sie war sofort bereit, der Wirt ließ bei Nacht und Nebel die einzige Geige des Ortes, die des Dorfschullehrers, holen und Herma Studeny spielte auf dem armseligen Instrumentchen nichts geringeres als die Chaconne aus der zweiten Solo-Suite von Bach. Es wurde ein sehr angeregter Abend - dem ich im übrigen einige unvergessene Kalauereien verdankte.
      Es kam das Jahr 1933 und man nahm zuhause den Einschnitt hin. Es wurde ohnehin nie über Politik gesprochen. Die jüdischen Freunde der Eltern kamen weiter wie gewohnt zu Besuch, bis sie nach und nach das Land verließen. Der Privatmusikverein erlebte einen bedrohlichen Aderlass, als auf Befehl von Gauleiter Streicher alle jüdischen Abonnenten - es waren fast 300 - austraten. Galgenhumor war die Antwort auf die Frage, was dem deutschen Musikleben gut täte: „mehr Blech, weniger Streicher“. Mag sein, daß der jüdische Dirigent Leo Blech heute nicht mehr so bekannt ist. - Eine eindeutige und erbitterte Stellungnahme gegen die neuen Machthaber bezog nur Tante Friedel. Bei ihrem engen Verhältnis zu Stiefvater Schwarzmann, den sie in seiner Krankheit bis zu seinem Tod 1926 betreut hatte, litt sie sehr unter den Judenverfolgungen. Ich war mit meinen 18 Jahren vom nationalen Pathos des Januar 1933 ergriffen, wurde aber bald ein gewöhnlicher Mitläufer. Für Vater hatte die beginnende Aufrüstung zur Folge, daß der alte, liebenswürdige Werksdirektor von einem neuen, brutalen abgelöst wurde, und daß die Arbeit in den beiden großen Montageabteilungen, deren Betriebsleiter Vater war, immer hektischer wurde. In dieser Zeit hörte ich ihn gelegentlich von seiner Arbeit sprechen, sonst hat er es nie getan.
      Mein Bruder Rudolf verließ das ungeliebte Realgymnasium mit der mittleren Reife, träumte vom Fliegen, machte rasch hintereinander die drei Segelflugscheine und wurde 1933 früher als eigentlich zulässig als Flugschüler in die im Aufbau befindliche Luftwaffe übernommen. Bald war er selbst Jagdflieger-Ausbilder und als das Richthofen-Geschwader im Frühjahr 1940, sehnlichst erwartet, endlich zum Einsatz kam, wurde er bei den Luftangriffen auf England ein Opfer der britischen Flugabwehr. Er versank mit seiner Maschine im Ärmelkanal. - Ich selbst verließ im Frühjahr 1934 das Elternhaus, um nach einem halben Jahr Arbeitsdienst in der Fränkischen Schweiz zur Rekrutenausbildung bei der Infanterie in Augsburg einzurücken.

  • Quellen 
    1. Merkel'sche Familiendaten im Internet.